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Dirk Stieger: "Eine Lehrstunde für Politikverdrossenheit"

Politik
  • Erstellt: 04.10.2022 / 08:01 Uhr von Stadtpolitik
Die Freien Wähler haben folgende Erklärung veröffentlicht: "Landauf landab sind die Stimmen nicht mehr zu überhören, die Bilder nicht mehr zu übersehen: In allen Teilen unseres Landes - auch in unserer Stadt - gehen Menschen auf die Straßen, weil die Befürchtungen zu extrem steigenden Energiepreisen jetzt real geworden sind. Betroffene, gerade auch aus Handwerk und Mittelstand, fürchten um ihre Existenz. Traditionsunternehmen müssen bereits jetzt aufgeben. Und der Winter steht erst noch bevor."
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Weiter heißt es: "Was Handwerker, z.B. Bäcker, längst beklagen, ist so einleuchtend: Die gestiegenen Energiekosten können nicht mit dem Produkt auf den Kunden umgelegt werden. Welcher Bäcker wollte seinen Kunden ein Brot für 8 Euro anbieten? Welcher Handwerker, der seinen Betrieb schließen muss, kann dann noch Mitarbeiter bezahlen, kann Berufsausbildung sicherstellen oder noch den Sportverein in der Nachbarschaft finanziell unterstützen? Was hier weg bricht ist dramatisch.

Was für das Handwerk und den Mittelstand gilt, trifft auch die Industrie mit voller Wucht. Die deutsche Wirtschaft ist dabei voll auf preiswerte Rohstoffe aus Russland ausgerichtet. Die Preisdifferenz dieser Rohstoffimporte aus Russland zum sonstigen Rohstoffmarkt waren bislang so erheblich, dass hier im Verhältnis deutlich höhere Löhne und soziale Standards als Ergebnis einer Wertschöpfungskette möglich waren und die deutsche Exportproduktion immer noch wettbewerbsfähig war. Es ist zwangsläufig, dass diese Lage sich dramatisch ändert, wenn der preiswertere Rohstoffimport nicht mehr erfolgt, offenbar auch in Verkennung der Realität und der gesamtgesellschaftlichen Folgen politisch nicht mehr gewollt ist. Industrieunternehmen, die nicht abwandern, werden Produktionskapazitäten an ausländische Standorte verlagern. Das Abwandern ganzer Industriesparten wird dabei dauerhaft sein. Die Deindustrialisierung ist heute schon sichtbar. Deutlich geringere Energiepreise etwa in den USA werden den Prozess beschleunigen.

Dem energiepolitischen Chaos stellt die Ampelregierung bislang wenig echte Hilfe entgegen. Einmalzahlungen, die durch Steuern noch halbiert werden, helfen nicht bei monatlich höheren Energiekosten. Auch mit Ankündigungen lassen sich Rechnungen nicht bezahlen. Energiepreisdeckel, die aktuell helfen, begründen neue erhebliche finanzielle Belastungen, die über viele Jahre u.a. über höhere Steuern abgetragen werden müssen. Die Sockelenergiepreise aber bleiben auf nicht wettbewerbsfähigem Niveau.

Als Fraktion haben wir daher einen Beschlussantrag mit folgendem Text in die SVV eingebracht:

´Die Stadtverordnetenversammlung appelliert an die Landesregierung, sich dafür einzusetzen, die gegen die Russische Föderation im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine gerichteten Sanktionen, die sich als nutzlos erwiesen haben, aufzuheben und so den sozialen Frieden im Land zu bewahren und den Mittelstand zu erhalten.´

Die Russische Föderation hat am 24. Februar 2022 die Ukraine völkerrechtswidrig angegriffen. Das steht außer Frage. Heißt aber Solidarität, sich selbst schaden zu müssen? Sanktionen sollten dem Sanktionierten mehr schaden, als dem Sanktionierer.

Zur Sitzung der SVV hatten offenbar die Fraktionen von CDU und SPD ein Papier vorbereitet und ohne Kommentar auf die Tische der Stadtverordneten legen lassen, das als ´Änderungsantrag´ zu unserem Beschlussantrag bezeichnet war:
´Die Stadtverordnetenversammlung appelliert an die Landesregierung, sich dafür einzusetzen, dass die Energieversorgung für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft gesichert werden und zügig ein Energiepreisdeckel für Strom und Gas eingeführt wird, um den sozialen Frieden im Land zu wahren und Unternehmen und Arbeitsplätze zu erhalten.´
Demnach eine Tischvorlage, ohne Erwähnung in der zur Sitzung ergänzten Tagesordnung. Beide Vorlagen zwangen dazu, Stellung zu beziehen und so waren die Redebeiträge z.T. deutlich abgrenzend.

Auffällig und wenig glaubwürdig war dabei die moralische Überhöhung in einzelnen Beiträgen, wonach der russische Angriffskrieg geradezu in Aufopferung grenzenlose Unterstützung der Ukraine fordere. Wer sich aber in der Vergangenheit zu Angriffskriegen nicht ansatzweise vergleichbar positionierte, nur weil der Angreifer aus dem eigenen Lager kam, wer heute nicht schnell genug um Rohstofflieferungen aus demokratiefernen Golfstaaten oder - ganz aktuell - aus Aserbaidschan wirbt, der muss sich schon nach dem eigenen moralischen Kompass fragen lassen.
Irritierend zudem die Sichtweise eines FDP-Vertreters, wonach sinngemäß Solidarität auch (der eigenen Bevölkerung) weh tun müsse. Auch hier scheint der Kompass nicht mehr zu funktionieren.
Letztlich wurde aber deutlich, dass beide Anträge eigenständige und voneinander unabhängige Ziele verfolgten.

In der Begründung ihres ßÄnderungsantragesß erwähnten die Vertreter von CDU und SPD mit keinem Wort, dass ihr Antrag den Beschlussantrag unserer Fraktion mit der Folge ´ersetzen´ sollte, dass tunlichst über den Beschlussantrag unserer Fraktion nicht mehr abgestimmt werden müsse. Als dies dann durch die Art der Sitzungsleitung offenbar wurde, verwunderte diese sonderbare Vorgehensweise nicht nur Mitglieder unserer Fraktion, war bereits auch zuvor in der Aussprache der Stadtverordneten artikuliert worden, beiden Anträgen zustimmen zu wollen.

Auf unseren Protest mühte sich der Sitzungsleiter zu erklären, dass der in der Abstimmung angenommene ´Änderungsantrag´ von SPD und CDU eine Abstimmung über unseren Hauptantrag entbehrlich machen würde.

Eine wirklich erstaunliche Sichtweise, wenn sich beide Anträge so deutlich unterscheiden und in der Abstimmung auch beiden Anträgen hatte zugestimmt werden können. Man kann sich schließlich gegen nutzlose Sanktionen aussprechen und für einen Energiepreisdeckel sein. Da ist dann schon die Frage berechtigt, ob etwa der ´Änderungsantrag´ nur dazu dienen sollte, eine Abstimmung unseres Antrages zu verhindern? Ist das dann demokratisch?

Erstaunlich auch, dass die geistigen Mütter und Väter dieser Handlungsweise offenbar ernsthaft glauben, dass sich unsere Fraktion so etwas bieten lässt. Dabei haben wir unsere Geradlinigkeit oft genug bewiesen und das wird jetzt nicht anders sein.
Zunächst aber liegt der Ball jetzt beim Oberbürgermeister, der im Rahmen seines Beanstandungsrechts messerscharf erkennen wird, dass eine solche Vorgehensweise, die unsere Fraktion in ihren Rechten einschränkt, keinen Bestand haben kann. Denn das Beanstandungsrecht umfasst auch eine Beanstandungspflicht ohne Ermessen. Es wird zu prüfen sein, dass der thematisch abweichende ´Änderungsantrag´ eigentlich ein eigenständiger Antrag war, der hätte überhaupt nicht behandelt werden dürfen. Denn eine besondere Dringlichkeit für eine Tischvorlage in der SVV-Sitzung gab es erkennbar nicht. Allenfalls hätte er als Ergänzung durchgehen können.
Alles in allem aber ein unnötiges, ein schlicht unfaires Schauspiel. Und ein Lehrstück für noch mehr Politikverdrossenheit."


Hinweis: Politische Pressemitteilungen gibt der Meetingpoint als Komplettzitate wieder; unsere Leser sollen sich eine eigene Meinung zu den Äußerungen unserer Politiker machen - ohne wertende Meinungen der Redaktion. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den zitierten Inhalten/Aussagen und macht sie sich nicht zu eigen.
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